Offener Brief An Gunnar Schupelius Lyrics

Sehr geehrter Herr Schupelius,

Leider bin ich nicht in der Lage, Ihre Kolumne regelmäßig zu lesen, da ich sie oft nur schwer ertragen kann. Aus diesem Grund schreibe ich Ihnen erst jetzt. Ich bitte Sie, dies zu entschuldigen.

In Ihrem Text vom 09.07., in dem Sie forderten, dass der Oranienplatz geräumt werden müsse, haben Sie geschrieben, dass sich die ostpreußische Großmutter eines ihrer Leser im Grabe herum drehen würde, wenn diese von den aktuellen Forderungen der heutigen Flüchtlinge hören würde. Sie schreiben, dass sich die jungen Männer aus Afrika Curryhuhn knabbernd darüber beklagen würden, dass sie nicht frei herumreisen dürfen oder kein Geld hätten, ihre Familien in Afrika anzurufen. Sie geben ihrem Leser recht und wahrscheinlich denken sie daran, wie diese ehrbare, deutsche Frau von den Russen vertrieben wurde, in Berlin vor dem Nichts stand, um dann hier mit viel Arbeitskraft dieses Land wieder aufzubauen. Dagegen beschreiben Sie in ihrem Text herumlungernde Wohlstandsflüchtlinge, denen es doch eigentlich gut geht in ihren „sauberen und sicheren Lagern“ und deren Protest eine einzige Frechheit ist. Das klingt fast so, als wären diese Menschen, die heutzutage ihre Heimatländer verlassen, allein aus Jux und Dollerei auf der Flucht, hätten sich auf eine entspannte Kreuzfahrt nach Europa begeben und würden sich nun beim Reiseleiter wegen des mangelnden Komforts beschwerden. Dabei vergessen sie ein paar ganz wesentliche Dinge, lieber Herr Schupelius. Weder die ostpreußische Großmutter, noch die Menschen aus Mali, Senegal, Niger, Libyen, Syrien, Afghanistan oder auch die ebenfalls von ihrem „gerechten Ärger“ getroffenen Roma aus Serbien, Bulgarien oder Rumänien, haben sich gewünscht ihre Heimat zu verlassen. Die Gründe für eine Flucht können unterschiedlich sein und manche von ihnen mögen Ihnen lieber Herr Schupelius vielleicht nicht einleuchten, aber sie haben immer damit zu tun, dass man glaubt, an einem anderen Ort der Erde, ein besseres Leben vorzufinden. Und wenn Sie der Meinung sind, dass nur Gefahr für Leib und Leben ein guter Grund für eine Flucht sei, dann glaube ich, dass Hunger und Armut und Ausgrenzung ebenfalls gute Gründe sein können. Und glauben Sie mir: Die meisten der Flüchtlinge auf dem Berliner Oranienplatz oder in den diversen Aufnahmelagern haben mehr Gewalt erfahren und gesehen, als Sie es sich für sich oder ihre Kinder wünschen würden.

Sie geben ihrem Leser mit der ostpreußischen Großmutter aber auch deshalb Recht, weil sie sich an den Fleiß der Trümmerfrauen erinnern, die weder Curryhuhn geknabbert noch geklagt, sondern hart gearbeitet haben. Dabei, lieber Herr Schupelius, vergessen Sie ein ganz wesentliches Detail. Die heutigen Flüchtlinge dürfen nicht arbeiten, solange ihr Asylverfahren nicht abgeschlossen ist. Sie bekommen in den meisten Fällen noch nicht einmal die Möglichkeit einen ordentlichen Deutschkurs zu besuchen. Sie bekommen gar nicht die Möglichkeit, sich in diese Gesellschaft einzubringen und für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Sie sind dazu verdammt, in ihren „sauberen und sicheren Unterkünften“, irgendwo, am Rande der Gesellschaft ihre Zeit totzuschlagen, zu sitzen, zu warten, zu essen, was man ihnen aus irgendwelchen Großküchen zu essen schickt, zu schlafen, zu sitzen, zu warten, zu essen und zu schlafen. Das ist auch ok für eine gewisse Zeit. Zunächst sind alle Flüchtlinge, die es nach Deutschland geschafft haben, äußerst dankbar dafür, dass man sie überhaupt aufgenommen hat. Für eine gewisse Zeit ist das für alle in Ordnung. Das sind Unpässlichkeiten, wie Sie sich ausdrücken, und keiner beklagt sich. Nach einem halben Jahr allerdings werden solche Unpässlichkeiten unangenehm, nach einem Jahr werden solche Zustände unerträglich und nach zwei drei, vier Jahren oder gar zehn Jahren, die sich solche Asylverfahren hinziehen, wird das Ganze zerstörerisch. Wissen Sie Herr Schupelius, auch Gefängnisse sind sauber und sicher.

In ihrem zweiten Text zum Protestcamp schreiben Sie, man könne über die politischen Forderungen der Flüchtlinge reden. Mit wem? Wo? Mit Ihnen? Wer hört zu? Seit zwanzig Jahren stellen die Flüchtlinge und ihre Organisationen immer wieder dieselben Forderungen. Abschaffung der Residenzpflicht. Abschaffung der Lager. Abschiebestopp. Seit zwanzig Jahren passiert nichts. Seit neun Monaten gibt es diesen Protest auf dem Oranienplatz und als sich zu Weihnachten iranische Flüchtlinge am Brandenburger Tor die Münder zugenäht haben, hieß es, diese Form des Protestes sei zu krass. Trotzdem wurde kurz über die Forderungen der Flüchtlinge geredet, doch dann hat man sie leider wieder vergessen und keiner hat mehr darüber geredet. Das Camp nervt, sogar Sie reden darüber. Lassen Sie uns reden, Herr Schupelius. Reden ist gut.

Sie sind kein Rassist Herr Schupelius. Sie sind ein ganz normaler Mann aus der Mitte der Gesellschaft, mit einem gerechten Ärger, der das Glück hatte, eine einigermaßen gute Bildung zu genießen und jetzt auf einer mittelmäßig einflussreichen Stelle sitzt. Ihr Ärger ist zwar ziemlich selbstgefällig und mehr selbstgerecht als gerecht und wahrscheinlich denken Sie tatsächlich, dass Sie diese Stelle aufgrund ihres Fleißes und ihrer Kompetenz bekommen haben. Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht aber haben Sie auch nur die richtigen Leute zur richtigen Zeit kennen gelernt und waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das Glück lieber Herr Schupelius ist eine nicht zu unterschätzende Größe in unser aller Leben und mal gewinnt man, mal verliert man. Die Chancen allerdings in dieser Gesellschaft überhaupt gewinnen zu können, die sind recht ungleich verteilt und in einem sauberen und sicheren Sammellager in Eisenhüttenstadt, in dem man tatenlos, hoffnungslos und ohnmächtig herumsitzen muss, in so einem Sammellager gehen diese Chancen gegen null. Herr Schupelius, Sie sind clever und engagiert und es scheint als wollten Sie sich gesellschaftlich einbringen. Vielleicht ist es auch ganz anders und Sie sind nur noch genervt von ihrer Kolumne, dem ganzen gerechten Ärger und vielleicht schreiben Sie auch nur noch auf, wovon Sie ausgehen, dass es den Spießbürgern auf der Seele brennt – egal – auf jeden Fall wollen oder wollten Sie augenscheinlich etwas aus ihrem Leben machen. Ob es gelungen ist, müssen Sie selbst wissen. Worauf ich hinaus will: Vielleicht würden aber auch Sie sich auf den Weg machen, wenn Sie sich in einer solch ausweglosen Situation wiederfinden würden, vielleicht würden auch Sie ein solches Lager verlassen und losgehen, sich selbst organisieren und sich lieber auf den Oranienplatz setzen, Curryhuhn knabbern und politische Forderungen stellen, weil auch Sie nicht mehr ertragen könnten, wie ihr Potenzial vor die Hunde geht. Sie, der Sie eigentlich auch mehr sein wollen, als der Durchschnitt, der Sie sind. Sie, der ein bisschen mehr Glück gehabt hat im Leben und das nur allzu gerne vergisst.

In diesem Sinne, alles Gute und weiterhin viel Erfolg

Marcus Staiger

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Genius Annotation

Quelle: Staiger.tumblr.com

Marcus Staiger (* 26. September 1971 in Leonberg) ist ein deutscher Journalist und ehemaliger Labelbetreiber. Er gilt als einer der Wegbereiter des Berliner Rap. In seinem offenen Brief an BZ-Berlin Redakteur Gunnar Schupelius kritisiert er dessen harte Meinung gegenüber des Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin.

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